Predigt am Sonntag nach Ostern 2012 in Laubach

Liebe Gemeinde in Laubach: Herrlich, im Angesicht der renovierten Orgel wieder einmal auf der Laubacher Kanzel zu stehen!

Und liebe ehemalige Singalumnen: Großartig, in der festlich restaurierten Kirche mit Euch den Gottesdienst am Sonntag nach Ostern zu feiern!

Es hat sich viel verändert in unserem alten Laubach. Nicht nur Kirche und Orgel wurden neu gestaltet. Eine großartige Sponsorin hat Laubach jetzt sogar ein prächtiges Puppenstubenmuseum gestiftet, das nun hoffentlich auch dem wirtschaftlichen Aufschwung dienen wird. Andere Veränderungen, die wir beobachten, wenn wir ab und zu nach Laubach kommen, sind allerdings weniger erfreulich. REWE hat aufgegeben, und der Solmser Hof wurde geschlossen. Und viele Menschen leben heute in der Gemeinde, die von  unserer alten Schultradition und dem Wirken der Laubacher Kantorei nicht mehr viel wissen.

In den Veränderungen des Lebens gibt es für mich drei Konstanten. Das ist die Orgelmusik vor allem von Johann Sebastian Bach, die mich tröstet und aufbaut. Das sind die Choräle, die wir auch heute wieder gemeinsam anstimmen. Und das ist das Wort Gottes, das uns in jedem Gottesdienst, den wir besuchen, ein Stück Orientierung vermittelt. Die Orgel haben wir genossen, die ersten Lieder angestimmt. So wollen wir nun einen Abschnitt aus der Bibel hören und bedenken. Im 12. Kapitel des Markusevangeliums wird berichtet:

Es trat zu Jesus einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen deinen Kräften. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese beiden. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet. Als Jesus nun sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Liebe Freunde.

Erinnern Sie sich noch an Martin Luther King? Vor mehr als 40 Jahren wurde er Opfer eines Attentats. Der große Prediger und Politiker seines Volkes hatte es als seine Lebensaufgabe angesehen, die Schwarzen in den Vereinigten Staaten von Amerika in die Freiheit zu führen. Unlängst sah ich eine alte Fernsehaufzeichnung: Eine mitreißende Ansprache, die er da vor Tausenden hielt, vor den Ärmsten der Armen, um sie in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken.

Er tut dabei so, als ob er jeden Einzelnen anredet. Er ruft: "Es kann sein, du sagst: Ich darf keine Schule besuchen! Es kann sein, du sagst: Ich lebe auf der Straße, weil ich kein Zuhause besitze! Es kann sein, du sagst: Ich bin auf der Polizeiwache getreten und geschlagen worden!" Und jedes Mal unterbricht er sich und ruft: "But I am somebody!". Ich werde ungerecht behandelt - aber ich bin jemand! Ich darf nur die Drecksarbeit machen - aber ich bin jemand! Die Menge gerät in Bewegung und stimmt den Refrain an: "Horrible my life! But I am somebody!" - Schrecklich, dieses Leben, aber ich bin jemand! Wirklich - eine mitreißende Ansprache! Menschen entdecken sich selbst in der Würde, die ihnen Gott verliehen hat. Und das macht sie stark. So stark, dass sich am Ende ihr Schicksal wendet und sich ein ganzes Land verändert.

Martin Luther Kind hat seiner Ansprache ein Wort aus dem Evangelium zu Grunde gelegt. Er predigte genau über das Jesuswort, das ich eben verlesen habe: "Jesus sprach zu dem Schriftgelehrten: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit all deinen Kräften, und du sollst deinen Nächsten leiben, wie dich selbst!" Nun werden sie erstaunt fragen: Was hat denn sein Appell an das Selbstbewusstsein unterdrückter Menschen mit dem Doppelgebot der Liebe zu tun? Ich habe darüber auch länger meditiert und werde ihnen am Ende das Ergebnis dieses Nachdenkens mitteilen. Doch zunächst schalten wir uns noch einmal in den Dialog zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten ein.

Das, was Markus hier protokolliert, ist keineswegs ein ernsthaftes theologisches Gespräch. Der Fraggestelle will Jesus vielmehr eine Falle stellen. Vorher schon hatte ihn ein Pharisäer spitzfindig gefragt, ob man dem römischen Kaiser Steuern zahlen müsse. Dann drängte sich ein Sadduzäer an Jesus heran und wollte wissen, was er von der Auferstehung der Toten halte. Und nun also ein Dritter, der Jesus aufs theologische Glatteis führen will. Mehr als 660 Einzelgebote gibt es im Judentum. Welches ist das Wichtigste? Lauter Fangfragen, um die Rechtgläubigkeit dieses gefährlich erfolgreichen Rabbi zu testen.

Jesus lässt sich auf das Spiel ein. Er antwortet so, wie jeder rechtgläubige Rabbiner geantwortet hätte: Nicht nur die 10 Gebote des Dekalogs, sondern alle 660 ergänzenden Gebote im Judentum sind in diesem Doppelgebot der Liebe zusammengefasst. Das ist nicht neu. Das steht so schon im Alten Testament. Der Fragesteller muss es bestätigen. Und Jesus bescheinigt ihm, dass er ein verständiger Mann ist. Nur der Schlusssatz macht stutzig: "Du bist nicht ferne vom Reich Gottes". Wieso das? Wieso: "nicht ferne"? Ist der Hinweis auf das Doppelgebot der Liebe nicht erschöpfend? Fehlt da noch was? Oder geht es am Ende um etwas ganz anderes, was sich hinter dieser spitzfindigen Frage nach der Anzahl der Gebote verbirgt?

Genau das ist es. Der Fragesteller ist der Meinung, dass sich die Rechtgläubigkeit eines Menschen im Befolgen von Geboten erweist, ob es nun 660, 10 oder nur zwei sind. Und das - meint  Jesus- ist der Grundfehler jeder Religion. Wir haben uns daran gewöhnt, sowohl den Islam als auch das Judentum als eine Gesetzesreligion zu bezeichnen. Das ist auch richtig. Denn in beiden Religionen steht der Gehorsam gegen unabänderlich feststehende Gebote im Mittelpunkt. Der Gottesglaube ist für Muslime ebenso wie für Jeden in erster Linie Gehorsam.

Doch täuschen wir uns nicht. Auch unter uns Christen gilt das ethisch korrekte Verhalten oft als das entscheidende Kennzeichen eines Christenmenschen. Ein sogenannter "guter Christ" ist doch vor allem "ein anständiger Mensch", oder? Das mag so sein. Aber umgekehrt muss man doch fragen: Wer sein Leben als "anständiger Mensch" führt, kann doch nicht darum schon als "guter Christ" gelten. Ich kenne jedenfalls einige "anständige Menschen", die ich sehr schätze, die aber gar keine Christen sein wollen. Und andererseits: Ich habe schon zu viele Beerdigungsgespräche geführt, um nicht zu wissen, dass im Grab eigentlich jeder ein guter Christ sein will, weil er doch  "Herr Pfarrer, glauben sie's mir, so ein anständiger Mensch war".

Nein, ich denke doch: Christsein muss noch etwas andere sein, als nur ein anständiges Leben führen. Jesu Antwort macht deutlich: Der Gottesglaube und die Frage nach dem Sinn des Lebens entscheidet sich nicht an der Anzahl der Gebote und nicht daran, ob ich sie alle gehorsam befolgt habe. Für Jesus ist der Gehorsam keine Kategorie des Glaubens. Das ist im Christentum eben anders als im Islam und im Judentum. Warum? Weil die einzige Kategorie des Glaubens für Jesus die Liebe ist.

Mit dem Doppelgebot der Liebe erinnert uns Jesus an das, was allein dem Leben Sinn gibt - nämlich die Hinwendung des Menschen zu Gott und die Hinwendung des Menschen zu seinem Mitmenschen - also "die Liebe von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, aus ganzem Gemüt und mit allen Kräften". Die Liebe - nicht als Pflichtübung und Gehorsamsakt, weil es so befohlen ist, sondern die Liebe als eine Dynamik, die den Menschen von innen heraus prägt. Als eine Kraft der Seele, des Denkens und dann natürlich auch des konkreten Verhaltens.

Natürlich braucht die Liebe gewisse Richtpunkte. Also solche kann man die 10 Gebote verstehen. Aber die Liebe kann sich nicht in der Erfüllung von Vorschriften erschöpfen. Sie muss kreativ von Fall zu Fall prüfen, was in verantwortlich gestalteter Liebe zu tun ist. Es gibt ethische Grenzfälle, wo diese Entscheidung schwer fällt. Ich denke etwa, wenn über eine Abtreibung mit dem Arzt gesprochen wird. Oder am Ende des Lebens, wenn sich Arzt und Verwandte ernsthaft prüfen, ob nicht eine mögliche Behandlung eingestellt wird, damit der Patient in Frieden einschlafen kann. Da kann keine Ethikkommision, kein Papst und kein Pfarrer auf der Kanzel eine für immer geltende Entscheidung treffen. Der große Kirchenvater Augustinus hat sich da weit vor gewagt. Von ihm stammt ein Satz, der gefährlich klingt und missbraucht werden kann, der in seiner Zuspitzung aber auch befreiend klingt. Der hlg. Augustinus sagte einmal: "Liebe, und dann tu, was du willst!". "Liebe!". Das ist ein Imperativ. Denn die Liebe ist die Dynamik allen Handelns.

Jesu Antwort zielt eigentlich auf die Frage hinter allen Fragen. Sie lautet: Es ist die Liebe, die dem Leben Sinn gibt. Die Liebe, in der dich Gott angenommen hat und dir deine Würde als Geschöpf verleihen hat. Der Glaube an diesen deinen Gott, der dir zu einem aufrechten Gang verhilft und dich mutig macht. Und es ist die Liebe zu deinen Mitmenschen. Eben die Nächstenliebe in konkreten Worten, Gesten und Taten.

Damit kehre ich zu Martin Luther King zurück. Was hat die Erinnerung Jesu an die Liebe als die Dynamik des Lebens mit seinem Appell an das Selbstbewusstsein seiner schwarzen Brüder und Schwestern zu tun? Martin Luther King gelang es, seinen schwarzen Zuhörern deutlich zu machen, dass sie - trotz allem - geliebte Geschöpfe Gottes sind. Und dass sie darum eine Würde besitzen, die ihnen niemand nehmen kann. Dieses Bewusstsein hat sie innerlich stark gemacht und letztlich auch äußerlich in die Freiheit geführt. "Horrible my life! But I am somebody!" Was für ein starker Satz! Von Gott geliebt und Gott liebend bin ich kein niemand. Ich bin ein jemand. Ich bin ein Mensch! Und setzte mich mit meiner Liebe für meine Mitmenschen ein. So hat einmal in einer ganz konkreten Situation die Erinnerung an die Liebe als Dynamik des Lebens ein ganzes Land verändert.

Nun wird kaum einer unter uns sagen, sein Leben sei "horrible", schrecklich. Aber es gibt in unserem Leben doch Stunden, in denen wir uns - wie die Jünger am Ostermorgen - ängstlich und verschüchtert in unser Zimmer einsperren, uns verkriechen wollen. Die Unsicherheiten, die manche Entwicklungen in der großen Politik uns bescheren, das Blutvergießen im Nahen Osten oder immer neue Gewalttaten an Kindern. "Schrecklich!", möchten wir da ausrufen. Und dann die kleinen Widerfahrnisse in unserem eigenen Alltag: Wenn sich die Kinder scheiden lassen oder eine weitere Operation ansteht. Und wie ich da, je älter ich werde, immer stärker auf die Hilfe anderer angewiesen bin. Ich brauche einen Stock, quäle mich, wenn ich ins Auto steige und vergesse immer häufiger Namen und Daten. Das nagt am Selbstbewusstsein. Manchmal habe ich überhaupt keine Lust, morgens das Bett zu verlassen: Was hat dieser Tag eigentlich für einen Sinn? Und da passiert es dann, dass ich denke: "Schrecklich, mein Leben. Ich bin müde, ich kann nicht mehr". In solche Situationen hinein schenkt uns das Wort Jesu von der Gotteskraft der Liebe neuen Mut.

Ja: Manchmal ist das Leben schwer. "But I am somebody!". Es mag mir gehen, wie es will, und es mag kommen, was da mag: Ich bin wer und lasse mir meine Würde von nichts und niemandem nehmen! Ich bin geliebt von Gott und kann diese Liebe täglich in kleiner Münze weiter geben. So erweist sich die Liebe als die Überlebenskraft im Auf und Ab meiner Tage. Amen

Claus-Jürgen Roepke

April 2012

 

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